C2C 006 Bis zum Ohio



Es war exakt der richtige Platz für einen Ruhetag. Das Hotel „Old Rose“, erbaut 1812, in Elizabethtown, direkt oberhalb des Ohio-River gelegen. Mit historischem Flair, majestätischem Bett und frei stehender Badewanne mit kunstvoll geschwungenen Beinen, wie aus einem Wild-West-Film entsprungen. Herrlich das heiße Bad nach stundenlangem Radfahren in strömendem Regen. Und dann gemütlich auf der Terrasse, der Blick schweift über den Ohio-River, der breit und mächtig dahin fließt, die Ufer nicht befestigt, umgeben von Wäldern und Wiesen soweit das Auge reicht. Nur selten fährt ein großer Schubverband langsam den Fluss hinauf, meist liegt der Fluss ruhig und erhaben vor uns. Gegen Abend kommt die Sonne nochmals hervor und taucht die Landschaft in ein heimeliges, warmes Licht. Auch der stundenlange Regen am nächsten Tag kann uns nichts anhaben. Geschützt sitzen wir auf der Terrasse, es ist trotz des Regens angenehm warm, die Grenze zwischen Fluss, verhangenem Himmel und umgebenden Wäldern verwischen sich hinter einem Regenvorhang. Herrlich.



Ja, wir haben am 22.6. den Ohio überschritten und damit unseren dritten Bundesstaat erreicht, Illinois. Wenn auch nur die südlichste Ecke dieses Staates, den wir in nur drei Tagen durchradeln werden, die kürzeste Etappe durch einen Bundesstaat auf unserer Tour.



Kentucky liegt hinter uns. Allmählich konnten wir uns mit diesem Bundesstaat doch anfreunden. Die Appalachen waren nach Berea zu Ende, Gott sei dank. Zwar nur Mittelgebirge, sind sie mit ihren steilen Anstiegen bekanntlich der körperlich anstrengendste und herausforderndste Teil des Trails. In dem hübschen College-Städten blieben wir einen Tag. Aber unsere Hoffnung, das ewige Auf und Ab wäre nach Berea zu Ende, wurde enttäuscht. Es wurde besser, zweifellos, die Rampen waren nicht mehr ganz so steil und hoch wie zuvor, aber es war weiter hügelig und wir kamen immer noch auf 800 -. 1000 Höhenmeter täglich. Die Landschaft ist oft wellenförmig und die Straßen werden quer über die Wellen geführt, und schnurstracks immer über den höchsten Punkt. “Rolling Hills“ wird das beschönigend genannt. Es geht sehr schön abwärts, man kann herrlich rollen lassen, gewinnt Tempo und kann mit dem Schwung einen Teil der gegenüber liegenden Welle hochfahren. Aber dann gilt es runterzuschalten bis in den 1. Gang, um unter Aufbietung aller Kräfte und schwer atmend die zweite Hälfte der Welle zu schaffen. Oben angekommen, kündigt sich gegenüber, steil aufragend wie eine Wand, bereits die nächste Welle an, und dieses Spiel wiederholt sich immer wieder. Aber da muss man durch. Nur ab und an, wenn die Hügel nicht zu hoch sind, gelingt es, mit dem Abwärts-Schwung bis auf den nächsten Kamm zu kommen.



Kentucky gehört zu den ärmeren Bundesstaaten der USA, hinsichtlich des Sozialprodukts steht es an 45. Stelle. Das spürt man deutlich vor allem im östlichen Landesteil, in den Appalachen. Westlich von Berea wird es besser, die Zahl der Trailer nimmt ab, der wohlhabenderen Farmhäuser zu. Es ist das fruchtbare Bluegrass-Country, benannt nach der bläulichen Färbung, die das weite Grasland im zeitigen Frühjahr annimmt. Wir kamen dafür in der Jahreszeit zu spät. Anfangs gibt es noch überwiegend Weidebetrieb, Pferde und Rinder, der aber allmählich in intensivere Landwirtschaft übergeht. Endlos große Felder mit Mais, Sojabohnen und Getreide, ab und an auch Tabak, begleiten uns. Es ist sehr ländlich, nirgends auf unserer Route durch West-Kentucky gibt es eine größere Stadt.




Es ist auch das Gebiet der Amish-People, deren Höfe verstreut meist abseits der Straße liegen. Konsequent lehnen sie jede Motorisierung ab und bearbeiten die Felder traditionell mit Pferden. Mehrfach sehen wir sie mit Pferd und Buggy in ihrer typischen Tracht die Straße entlang traben. Am Straßenrand weisen Schilder auf sie hin, denn Autos und Buggies vertragen sich noch weniger als Autos und Fahrräder. Immer wieder kommt es zu Unfällen.

Die Amish-People, eine protestantische Glaubensgemeinschaft, sind vor Generationen über Umwege aus der Schweiz und Süddeutschland eingewandert. Ralf kam beim Einkaufen mit einem von ihnen ins Gespräch und war erstaunt, sich auf Deutsch verständigen zu können. Allerdings in einem sehr altertümlichen Deutsch, für uns schwer verständlich. In Gottesdiensten und offiziellen Veranstaltungen würde eine Art Hochdeutsch gesprochen. Wie können sie sich mit ihrer traditionellen Wirtschaftsweise überhaupt behaupten? Sie bauen gesundes Gemüse an, das sie direkt ab Hof verkaufen. Und sie sind offenbar geschickte und zuverlässige Handwerker, insbesondere Schreiner und Zimmerleute. Das Rohgerüst eines Hauses, von ihnen errichtet, ist in seiner Qualität und Präzision unübertroffen. Dazu rücken sie mit einem Arbeitstrupp an, durchaus auf einem Pickup, aber nicht von ihnen selbst, sondern von jemand anderem gefahren. So jedenfalls erzählte es ein amerikanischer Radler.

Mit uns dreien, Maria, Ralf und Heiner, klappt es wirklich gut, es ist sehr angenehm. Meist radeln wir zusammen und verbringen die Abende sehr anregend gemeinsam. Nicht immer passt der Rhythmus, dann radelt Heiner auch mal einen Tag alleine. Man trifft sich dann wieder am Abend oder am nächsten Tag. Immer wieder kommt es zu interessanten Begegnungen mit anderen TransAm-Radlern. In der Turnhalle im Citypark von Hodgenville, extra für uns geöffnet, übernachten wir mit fünf anderen. Darunter ist David, ein sehr warmherziger Radler aus London, Cutter von Beruf. Was das ist? Wir wussten es auch nicht. Er entwirft das Design für Maßanzüge, die danach gefertigt werden. Oder Thornton, ein 20 Jahre junger Amerikaner, mit dem wir in den Appalachen schon wild campierten. Er erzählte uns ein Erlebnis: Als er eines morgens im Zelt aufwachte, kroch zu seiner Überraschung ein Kätzchen mit ihm aus dem Schlafsack. Sie hatte sich heimlich bei ihm einquartiert. Und als er wegfahren wollte, sprang sie ihm auf die Packtaschen. Damit hatte sie sein Herz erobert. Er konnte sie unmöglich zurücklassen. Also räumte er seine Lenkertasche aus und setzte sie hinein. Und dann musste Mama eine stundenlange Autofahrt auf sich nehmen, um das Kätzchen abzuholen. Ist das nicht süß? Oder Ken und Joan, ein Ehepaar aus Ohio, das wir immer wieder treffen, weil sie ein ähnliches Tempo fahren. Es sind schon immer besondere Charaktere, die solche Abenteuer unternehmen.



Weiterhin ist für uns die Gastfreundschaft und Offenheit, die wir erfahren, sehr beeindruckend. Maria und Ralf sitzen in Springfield vor dem Supermarkt „Dollar General“ auf einer Bank und überlegen, wo sie ihr Zelt aufschlagen können. Eine Frau, die einkaufen war und sich als Ruth-Ann vorstellt, geht auf sie zu und spricht sie an. Nach einem kurzen Gespräch lädt sie die beiden zu sich nach Hause ein. Maria und Ralf erleben einen netten Abend in der amerikanischen Familie, nehmen am Abendessen und am nächsten Tag an einem opulenten Frühstück teil und schlafen in einem weichen Bett statt auf einer Luftmatratze. Einfach so, aus Freundlichkeit.

Wir kommen abends in Utica an, einem winzigen Nest mit 200 Einwohnern, eine Straßenkreuzung nur. Weit und breit gibt es weder Hotel noch Zeltplatz. Aber es gibt ein Feuerwehrhaus, die Tür ist offen. Biker sind herzlich willkommen. Die eingerichtete Küche, die warme Dusche, die gemütliche Sitzecke mit Sofas, der Aufenthaltsraum, das alles steht zur Verfügung.. In der Halle nebenan sind mehrere Feuerwehrfahrzeuge, an denen wir auf dem Weg zur Dusche vorbeigehen, die Tür zum Büro ist offen, mit Computer und aufgeschlagenen Ordnern. Von der Feuerwehr sehen wir niemanden. Wir tragen uns am nächsten Morgen ins Gästebuch ein und bedanken uns herzlich. In Deutschland wäre dergleichen undenkbar. Tausend Sicherheitsbedenken würden dem im Wege stehen.




Oder in dem Örtchen Clay, nach 80km auf dem Fahrrad. Auf die Frage im City-Office nach einem Quartier greift die nette Angestellte zum Telefon. Einen Zeltplatz gebe es nicht, aber kein Problem, wir sollten uns bei Pater James melden, von der Methodistenkirche nebenan. Der empfängt uns sehr freundlich, drückt jedem die Hand und führt uns in den Gemeindesaal direkt neben der Kirche. Ein riesiger Raum mit Tischgruppen und vor allem ebenfalls mit Küche und Duschen. Wir sollten es uns gemütlich machen. Er wünscht uns einen guten Aufenthalt und verabschiedet sich. Wir verbringen eine angenehme Nacht unter einem festen Dach. Diese Unkompliziertheit, dieses unbedingte Vertrauen, diese selbstverständliche Freundlichkeit, die uns hier entgegen gebracht wird, überwältigt uns immer wieder.





Wir sind stolz auf unsere 70, 80 und mehr Kilometer, die wir täglich zurücklegen, die Höhenmeter inclusive. Aber dann geschieht etwas, das uns an unseren Leistungen zweifeln lässt. Uns fallen mehrmals täglich Radler auf, die uns entgegenkamen und mit hohem Tempo freundlich winkend vorbei fahren. Es sind eindeutig Tourenfahrer, aber mit leichteren Rädern, wenig Gepäck, jung meist. Was sind das für Leute? Es sind Racer, erklärt uns ein älterer Farmer, der sich erstaunlich gut auskennt und das Geschehen per internet genau verfolgt. Teilnehmer eines races, eines Rennens also, ebenfalls auf unserer TransAm-Route, allerdings umgekehrt von West nach Ost. 160 waren in Oregon gestartet. Der erste hatte die Strecke von knapp 7.000km in 18 Tagen geschafft. Für uns schier unglaublich. Wir haben dafür vier Monate kalkuliert. Einer dieser Racer taucht abends gegen 22.oo Uhr vor unserem Hotel in Elizabethtown auf. Es ist Clay aus Kalifornien, mit 57 Jahren einer der älteren Teilnehmer. Er sucht einen Platz zum Schlafen. Wir bitten ihn herein, bieten ihm ein Bier, eine Dusche und eine Schlafmöglichkeit an. Er freut sich, denn er ist völlig durchnässt nach einem langen Tag im Regen. Und er erzählt: Bislang hat er 3.400 Meilen = gut 5.100km zurückgelegt, in 20 Tagen. Damit ist er sehr zufrieden. Sein Ziel ist es, die Strecke in maximal 30 Tagen zu schaffen. Er ist täglich etwa 16 Stunden auf dem Rad, oft auch nachts. Ein Zelt hat er nicht, ebenso wenig eine Iso-Matte, auch nur wenig Wechselkleidung. Möglichst wenig Gewicht, das ist entscheidend. Zum Schlafen sucht er sich einen Platz an einer überdachten Stelle, einen Shelter im Park, den Eingangsbereich eines Postamts. Und er muss viele essen und trinken, auch wenn er keinen Hunger oder Durst hat, um die Tausende von Kalorien, die er täglich verbraucht, wieder aufzufüllen. Jeder der Racer ist völlig auf sich gestellt, es gibt keinerlei Hilfsstrukturen. Einer von ihnen, ein junger Norweger, ist bei dem Rennen tödlich verunglückt. Er wurde nachts in Kansas von einem Auto überfahren. Clay kannte ihn, fuhr ein kurzes Stück hinter ihm und war als erster an der Unfallstelle. Das hat ihn sehr mitgenommen. Clay schläft schnell ein. Morgens um 5 Uhr ist er schon wieder weg. Wieder auf der Strecke.

Wir sind voller Bewunderung für die Leistung dieser Racer. Aber wir wissen auch: Das ist absolut nicht unsere Messlatte und soll es nicht sein. Wir wollen uns durchaus sportlich herausfordern, im Rahmen unserer Möglichkeiten, aber wir wollen auch Land und Leute kennen lernen, die Fahrt einfach genießen.

Wir verlassen Elizabethtown. Das Städtchen selbst ist ziemlich herunter gekommen. Zwei selbst am Freitagabend fast leere Bars künden noch von besseren Tagen. Die Einwohnerzahl ist in den letzten Jahren dramatisch auf wenige hundert gesunken. Viele Häuser sind verlassen, stehen zum Verkauf oder verrotten. Die Stadt lebte vom Kohleabbau, doch das ist vorbei. Manche hoffen auf ein Revival, wie der Barbesitzer, bei dem wir ein Bier trinken. Doch das dürften vergebliche Träume sein.



Es geht weiter nach Westen über Golconda nach Vienna. Zwei Schilder am Straßenrand weisen darauf hin, dass auf genau dieser Route in den 1830er Jahren der „Trail of Tears“ stattfand, der „Pfad der Tränen“, Vienna selbst war eine Station auf diesem Trail. Die Indianerstämme des Ostens wurden durch den „Indian Removal Act“ aus ihren angestammten Gebieten vertrieben, in Trecks zusammengefasst und mit militärischer Bewachung in Hungermärschen nach Westen über den Mississippi in neu eingerichtete Indianerreservate geführt. Auf unserer Route war es vor allem der Stamm der Cherokee. Die Folgen waren verheerend. Über ein Viertel der Indianer kam auf diesem Trail ums Leben, weitere Folgen waren die Entwurzelung der eng mit ihrem Lebensraum verbundenen Stämme, die sich in den völlig anders gearteten neuen Lebensräumen nicht zurecht fanden. Aber mehr als zwei karge Hinweisschilder fand man wohl für dieses historische Ereignis nicht angemessen, obwohl ansonsten häufig historische Erläuterungen zu finden sind.


Ab Vienna finden wir erstmals einen richtigen Fahrradweg, entlang einer ehemaligen Bahnstrecke, den „Tunnel Hill State Trail“. Herrlich eben, durch eine wunderschöne Landschaft. Obwohl es ein Umweg ist, lassen wir den Radweg nicht aus. Und es geht weiter entlang des beschaulichen „Devils Kitchen Lake“ bis zur Stadt Carbondale. Wenige Kilometer trennen uns noch vom Mississippi, the old man river, der Fluss von Tom Sawyer und Huckleberry Finn.



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