Nach 70km gegen Abend angekommen fragten wir nach einem Quartier. Wir wurden nach einigem Hin und Her zu Erlinda und Roberto Gonzales geschickt, sehr gastfreundliche Leute, die uns zwei sehr einfache, aber erstaunlich günstige Zimmer vermieteten. Am kommenden Morgen sollte es weiter gehen, aber das erwies sich als unmöglich: Thomas hatte die ganze Nacht Durchfall und Erbrechen. Weiter fahren ging gar nicht, da half nur im Bett bleiben und Kamillentee. Als wir das unserer Wirtin mitteilten, schüttelte sie den Kopf. Sie müsse ihren Sohn informieren, der als Arzt im benachbarten Gesundheitszentrum arbeitet. Dieser kam und beorderte Thomas gleich in diese Krankenstation. Dort wurde er gründlich untersucht und erst mal an den Tropf gehängt. Es stellte sich heraus, dass es in diesem Gebiet einige Cholera-Fälle gegeben und man Angst vor einer erneuten Ausbreitung dieser Krankheit hatte. Als Heiner zurück in das Casa Particular kam, fand er dort fünf resolute Frauen in Weiß vor, die verkündeten, dass sie jetzt das ganze Haus desinfizieren müssten. Das taten sie gründlich, danach war alles, die Zimmer, die Küche, unsere Fahrräder und auch der schöne Gemüsegarten des Hausherrn, unter einem weißen Schaum versunken. Im Gesundheitszentrum hatte man inzwischen bereits ein Amulanz-Auto bestellt, das Thomas in die Klinik nach Santiago bringen sollte. Heiner wurde indes von einer Angestellten der städtischen Verwaltung empfangen, die ihn eingehend verhörte. Am Schluss überreichte sie ihm eine Citacion, eine Vorladung für das Migrationsbürg in Santiago für den kommenden Vormittag, der unbedingt Folge zu leisten sei. Wir hätten nämlich gegen das Migrationsgesetz verstoßen, weil wir in einer Wohnung nächtigten, die keine Lizenz für die Vermietung an Ausländer hatte. Uns hatte das weder interessiert noch war es uns aufgefallen, aber im Nachhinein verstanden wir: Deshalb war das Zeichen auf dem Tor, eine Art Kreuz, nicht in Blau, sondern in Rot aufgemalt, zugelassen also nur für Kubaner. Ohne die Erkrankung von Thomas wäre das nicht aufgefallen. Am Nachmittag ging es dann, zusammen mit einer extra dafür abgestellten Krankenschwester, mit Thomas auf der Pritsche liegend und mir daneben, mit einer Affengeschwindigkeit ins Krankenhaus in Santiago.
Dort wurde Thomas in einer langwierigen Prozedur von einer missmutigen Ärztin aufgenommen, die fein säuberlich handschriftlich auf einem Schreibblock die Krankengeschichte von Thomas notierte. Computer gab es nirgends, die Station machte einen reichlich abgerissenen Eindruck. Thomas wurde dann in ein Metallbett in einem Sechsbett-Zimmer gelegt, er war der einzige Patient, auch die Nachbarzimmer waren überwiegend leer. Dort wurde er wieder an den Tropf gehängt, die Untersuchungen hatten inzwischen hinsichtlich Cholera Entwarnung gegeben. So lag er denn, die folgende Nacht und den nächsten halben Tag, liebevoll betreut von überaus freundlichen Krankenschwestern, die sich allerdings in Zeitlupe bewegten. Aber sie waren gut drauf und selbst die Ärztin war inzwischen aufgetaut und es gelang ihr ein Lächeln. Bad und Toilette nebenan waren ziemlich versifft, Toilettenpapier gab es keins, auf die Frage danach wurde für uns von einem Schreibblock ein Blatt abgerissen. Aber immerhin, es gab regelmäßig etwas zu essen. Heiner quartierte sich für die Nacht einfach in dem Bett nebenan ein.
Am kommenden Vormittag kam Heiner der Vorladung ins Migrationsbüro nach. Dort wurde er deutlich, aber doch freundlich für das Vergehen verwarnt. Auf die Frage, wo wir denn sonst in Mayari Ariba hätten übernachten können, in dem das Hotel geschlossen war und es kein für Ausländer zugelassenes Casa Particular gab, denn es lag außerhalb der üblichen Touristenrouten, wusste der Beamte keine Antwort. Nachmittags wurde Thomas dann wieder entlassen, nachdem er die allerdings moderate Rechnung gezahlt hatte. Der Enkel unserer Wirtin, der ein Taxi hatte, holte uns ab und brachte uns zurück zu unseren Gastgebern. Dort herrschte inzwischen helle Aufregung. Auch die Wirtin war in das Migrationsbüro nach Santiago vorgeladen worden und völlig außer sich. "Ich habe immer alles für die Revolution getan, und nun das", jammerte die alte Dame. Sie hatte Angst um ihre Vermieter-Lizenz. Noch am gleichen Tag fuhr sie mit ihrem Sohn nach Santiago und kam bald darauf wieder zurück: Auch sie hatte nur eine Verwarnung erhalten.
Noch ein Wort zum Gesundheitssystem in Kuba. Unsere eigenen Erfahrungen waren sicher durchwachsen, und tatsächlich fehlt es aufgrund der Devisenknappheit vor allem an modernen Apparaturen und an Ausstattung. Dennoch sind die Kubaner stolz auf ihr Gesundheitswesen, und das sicher zu Recht. In jedem Dorf gibt es Gesundheitszentren, die Ärzte sind hervorragend ausgebildet, die Ärztedichte ist höher als in Deutschland, die Behandlung generell kostenlos, die Medikamente kosten Centbeträge. Die Kindersterblichkeit, ein wichtiger Indikator, entspricht der bei uns und ist mit Abstand die niedrigste in Lateinamerika. Mehr als Zehntausend kubanische Ärzte arbeiten, über Programme der Regierung, in anderen Ländern Lateinamerikas und Afrikas, waren an der Ebola-Bekämpfung beteiligt und erfahren dort eine hohe Anerkennung. Das sind Errungenschaften, die man nicht hoch genug einschätzen kann, vor allem wenn man Kuba nicht mit dem abgehobenen Blick des Europäers sieht, sondern mit den anderen Ländern in Lateinamerika vergleicht.
Doch zurück zu unserer Situation in Mayari Arriba. Es war klar, dass wir auf keinen Fall länger in diesem Haus bleiben konnten. Aber ein anderes gab es nicht, der nächste Ort war Moa und lag 70km entfernt. Es war bereits gegen Abend und Thomas war ohnehin noch zu schwach, um eine größere Strecke zu fahren. Was tun? Die einzige Lösung war ein Taxi. Aber das Taxi des Enkels war zu klein, um unsere Räder aufzunehmen, deshalb hatten wir bereits unterwegs einen Kleinlaster angesprochen, der uns um 18.oo Uhr abholen wollte. Es wurde 18.oo Uhr, es wurde 19.oo Uhr und bereits dunkel, wir wurden immer nervöser, aber er kam nicht. Schließlich hatte der Enkel einen anderen Bekannten organisiert mit einem Jeep. Es war schwierig, aber es klappte schließlich, unsere Fahrräder darin unterzubringen. Gegen 20.oo Uhr, es war stockdunkel, fuhren wir los, aber nicht, bevor wir den ganzen Ort abgeklappert hatten, um bei einem Freund billiges Motoröl, bei einem anderen günstiges Benzin und bei einem dritten diesen selbst zu holen. Die Strecke erwies sich als absolut abenteuerlich, zu Anfang voller abgrundtiefer Schlaglöcher, bereits nach 10km gab es keinen Asphalt mehr und die Straße war aufgrund des anhaltenden Regens eine reine Schlammpiste. Niemals hätten wir diese Strecke mit dem Fahrrad fahren können. Auch der Jeep quälte sich mühsam und im Schneckentempo über mehrere Anhöhen, bis er schließlich an einer steilen Rampe versagte. Das Auto hatte nur einen kleinen Fiat-Motor und schaffte den Anstieg nicht. Keine Chance, trotz mehrerer Anläufe bei entsetzlich heulendem Motor. Schließlich fuhren wir ca. 10km zu einer kleinen Siedlung zurück, der Fahrer wollte ein Fahrzeug organisieren, das uns über die Anhöhe schleppen konnte. Und tatsächlich, nach einer halben Stunde näherte sich ein Traktor, ein uraltes Modell aus den 50er Jahren. Er hängte den Jeep dran und wir tuckerten los.
Langsam und stetig fuhren wir die Anhöhe hoch, kein kniehoher Schlamm, keine steilen Anstiege konnten uns mehr bremsen. Die letzten 30km schaffte der Jeep schließlich allein, wir waren völlig von Benzindunst eingenebelt, aber immerhin, wir kamen gegen Mitternacht im Hotel Miraflores in Moa an. Sie seien belegt, war die erste Auskunft, nachdem wir geklingelt hatten. Auf unseren verzweifelten Blick und unsere Bitten hin gaben sie uns doch noch ein Zimmer.
Wir blieben auch den folgenden Tag. Draußen regnete es in Strömen. Eigentlich wollten wir anschließend nach Baracoa und dann über den Farola-Pass gen Süden nach Guantanamo weiter fahren. Diese waldreiche Region mit einer besonders interessanten Vegetation hatte uns besonders interessiert. Aber die Straße nach Baracoa gilt schon unter normalen Bedingungen als besonders schwierig, nach dem tagelangen Regen aber unmöglich zu fahren. Deshalb disponierten wir um und radelten die Nordküste entlang Richtung Westen in drei Tagen über Banes und das Touristenzentrum Guardalavaca nach Gibara.
Es war eine schöne Strecke, gut zu fahren, mit abwechslungsreicher Kulturlandschaft ,vor allem Zuckerrohr und Rinderhaltung. Der Himmel war bewölkt, zwischendurch regnete es immer wieder. Das letzte Stück der Strecke Banes - Gibara (90km) erwies sich nochmals als schwierig. Es waren 30km Feldweg, völlig zerfahren und durch den Regen eine einzige Matschpiste und rutschig. Als wir abends ankamen, sahen sowohl wir samt unseren Rädern aus wie eine Fangopackung. Aber Gibara entpuppte sich als sehr nettes und sehenswertes Städtchen, an einer schönen Bucht gelegen, dessen beste Zeit als wichtigster Handelshafen Ostkubas aber lange zurück liegt. Übrig geblieben aus dieser Glanzzeit sind zahlreiche, in weiß gestrichene Kolonialbauten, die der Stadt auch die Bezeichnung "Villa Blanca" eingebracht haben.
Anschließend fuhren wir weiter zurück nach Santiago, den Abschnitt ab Holguin allerdings herrlich bequem in einem alten Dodge, Baujahr 1956. Die Räder passten sogar in den Kofferraum. Es war das einzige Mal, dass wir uns eine Fahrt in einem Oldtimer gönnten.
Unsere Ostroute hatte einen anderen Verlauf genommen als geplant, aber sie war auch so sehr abwechslungsreich. Jetzt wollten wir einige Tage in Santiago de Cuba bleiben, um diese Stadt kennen zu lernen. Doch davon später.
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